Als wir schließlich sonnenverbrannt, dehydriert, schweißgetränkt und vollkommen erschöpft bei einigen zwar imposanten, aber verfallenen Mauerresten ankamen, war mein abgeschaltetes Gehirn noch nicht in der Lage zu erfassen, dass wir da waren. Der ‚Fünf-Drachen-Tempel‘ nämlich ist vor 79 Jahren abgebrannt, es steht nur noch, was aus Lehm und Stein gebaut war. Das sind die wirklich beeindruckenden zwei Wächtertürme, die Treppen hoch zum ehemaligen Hauptgebäude, vier Steinbrunnen auf dem inneren Tempelplatz und einige Gebäudereste hier und da. Der Tempel muss unglaublich gewesen sein, heute braucht man schon etwas Fantasie. Zunächst einmal war wieder posen angesagt. Die Sonne brannte auf uns herunter und weil sich der ganze Trupp beim Anstieg zerstreut hatte, mussten wir dort stehen und warten. Nur nicht denken, das war das einzige, was ich tatsächlich immer gedacht habe. Von Ankunftsfreude keine Spur, war mir ja auch gar nicht klar.
Irgendwann hatte meister Chen sein Foto und wir durften weitertrotten. Als wir vom Vorplatz in Richtung eines Gebäudes schlurften, welches als einziges noch (oder wieder?) ein Dach hat und den Platz auf dem wir standen nach Nordwesten hin begrenzte, fiel mir plötzlich ein, dass dies ja der Tempel sein könnte. Ich fragte nach und erfuhr also, dass wir da seien. Das erste, was ich an geistiger Leistung zu dieser Erkenntnis produzieren konnte war, dass ich dem Tempel vorwarf, nirgendwohin Schatten zu werfen. Oli z.B. war auch nicht ganz bei Sinnen – als wir in das besagte Gebäude eintraten, welches als ein Tor zum dahinter gelegenen Hauptplatz des Tempel mit der dreiteiligen Treppe zum Hauptgebäude fungierte und den Eintretenden zu beiden Seiten mit an die vier Meter hohen taoistischen Gottheitenstatuen empfing, dachte Oli, die dort auf kleinen steinernen Rundtischen abgelegten Süßigkeiten seien Snacks für uns arme gemarterte Ankömmlinge. Zum Glück fiel ihm doch noch die Idee ‚Opfergabe‘ ein, bevor er zugriff. Wer weiß, was sonst mit hm passiert wäre, denn diese beiden Gestalten waren gigantisch, kriegerisch, gebieterisch. Mit wilden Gesichtsausdrücken, bewaffnet und gepanzert und kraftstrotzend.
Nach diesem kurzen Schatten erwartete uns auf der anderen Seite: die Treppe. Sonne, Steine, Stufen – Shifu schon oben. ‚Nicht denken‘ ist erneut meine Selbstinstruktion und ich traue mich heraus aus dem Dunkel, hinaus auf den Vorplatz, quer darüber hinweg, hinauf auf die Treppe und Stufe um Stufe aufwärts. Oben angekommen geht es um einen wunderschönen Schrein herum, den ich allerdings erst am Abend richtig wahrgenommen haben werde und schließlich nochmal einen Lehmpfad hinauf bis zu einem Lehmgebäude, welches also unsere Unterkunft war.
Auch dort gab es nur spärlichen Schatten von zwei dürren Bäumchen und so haben wir uns alle in einen sogenannten Aufenthaltsraum gezwängt, der zwar heiß und stickig, dafür aber ohne Sonne war. Dort wurden wir empfangen mit heißem Minztee! Das war zwar ganz gut, weil der Tee aus frischer Minze war und wirklich gut schmeckte und wir ja auch wissen, dass man beim Sport nix Kaltes trinken soll…aber wir hatten einfach alle so einen unglaublichen Durst, dass der heiße Tee, der sich nur mit Pusten und in kleinen Schlucken trinken ließ, eher Aggressionen auf sich zog.
Es gab auch noch einen Wasserhahn draußen im Hof mit einem Steinbecken. Aufgrund der akuten Austrocknung trauten sich schließlich die ersten, einfach daraus zu trinken und da das Wasser verhältnismäßig kühl war interpretierten wir, dass es sicher Quellwasser sei und tranken drauflos. Ich denke auch, das Wasser war tatsächlich gut. Noch.
Etwa eineinhalb Stunden saßen wir alle lethargisch da und versuchten, nachdem der erste Durst gestillt war, bei kleinen Teeportionen langsam wieder aus dem Delir zu erwachen. Da begann ich mich so langsam zu fragen, wo wir eigentlich alle schlafen sollten. Aber dann wurde Mittagessen aufgetischt und diese Frage rückte erstmal in den Hintergrund. Das Essen war tatsächlich ganz gut, allein schon, weil es einmal etwas anderes war als das zwar auch ganz gute, aber immer gleiche Essen in der Schule. Was ich etwas komisch, aber wenn ich mal ganz ehrlich bin durchaus angenehm fand, war, dass Shifu Chen einen Tisch für die ausländischen Schüler bestimmte, an dem dann also die fünf Freunde aus dem Baskenland, Enneka aus Kambodscha und Oli und ich saßen, während sich den anderen Tisch16 Chinesen teilten. Das war wahrscheinlich durchaus mitgedacht vom Meister, der beobachtet hatte, dass wir (und zwar nicht gemessen an meinem allseits bekannten zeitlupen-Esstempo!) wesentlich langsamer essen als die Chinesen, die so schnell sind, dass wir wahrscheinlich nichts abbekämen, wenn wir mit ihnen die Schüsseln zu teilen hätten. Und die Geräusche, von denen wir so ein wenig Abstand hatten, blieben mir auf diese Weise auch einmal drei Mahlzeiten lang erspart.
Gut gesättigt tauchte dann also die Frage nach den Schlafplätzen wieder auf. Nachdem diese so nach einer halben Stunde bis Stunde auf wirklich jedem Gesicht zu lesen war, begann der Shifu, sich einen Überblick zu verschaffen und man sah ihm an, dass er mit wilder Kombinatorik im Kopf jonglierte. Schließlich ging es sogar auf, indem alle Chinesen und wer sich sonst gut kannte zu zweit ein Bett zugewiesen bekamen. Ich landete auf diese Weise sogar in einem Frauenzimmer mit einem Bett für mich alleine. Wieder ein irgendwie peinliches – und doch auch ganz erleichtertes – Gefühl. In die zugewiesenen Schlafstätten haben wir uns dann alle fallenlassen und trotz Nachmittag, schnarchender Nebenfrau und koordinierter Schwarmangriffe von Mücken bin ich eingeschlafen.
Nachmittags bin ich dann zum Tempel runter gestiegen und habe mich erst einmal mit wiedergewonnenen geistigen Kräften, zu denen ich jetzt mal auch die schlichte Wahrnehmung zähle, umgesehen. Auf märchenhaft schrägen und verwitterten Steinstufen zu Füßen eines der Wachtürme verbrachte ich ein Weile in Meditation. Das brachte das Leben schließlich ganz zurück und um 17:00 Uhr war dann wie immer Training angesagt.
Das artete allerdings erstmal in ein Fotoshooting aus. Wir mussten alle möglichen Aufwärm- und Basisübungen in voller Kluft, Formation und Koordination durchführen, während Shifu Chen um uns herumgesprungen ist und von allen Seiten fotografiert hat. Die Szenerie ist schon wirklich sehr imposant und es waren zum ersten Mal mehrere ausländische Schüler gleichzeitig an der Schule, deshalb wollte er die Gelegenheit eben nutzen. Aber lieber hätte ich in diesem Ambiente wirklich trainiert.Das haben wir zum Schluss immerhin noch ein wenig gemacht und so bin ich ganz gut gelaunt wieder zum Quartier aufgestiegen.
Zurück am Hüttenplatz dann die große Überraschung, die uns den Rest des Aufenthaltes versaute: Das Wasser war verdorben. Während wir beim Training waren, haben die Leute von der ‚Herberge‘ (oder wie immer man die Ansammlung aus Lehmgebäuden, die wahrscheinlich bis auf das mit dem ‚Aufenthaltsraum‘ allesamt mal Ställe waren), die Pumpe ausgewechselt oder irgendetwas in der Art unternommen. Nun schmeckte und roch das Wasser derb nach Benzin und war sowohl zum Trinken als auch zum Waschen ungenießbar. Auch zum Essenkochen war es ungenießbar. Das jedoch störte die Bergbewohner nicht, sie kochten dennoch damit. Das Essen war also auch nicht mehr gut. Ich habe dennoch etwas davon gegessen, weil ich sonst nichts hatte und einfach hungrig war. Am nächsten Morgen hatte ich lauter Bläschen rund um den Mund und heute hatten wir hier eine ganze Reihe Leute die wegen kranker Mägen nicht trainieren konnten. Jetzt stellt euch Folgendes vor: ich sitze auf einer einsamen Berghütte, es ist brütendwarm, ich habe trainiert und bin total durstig, das einzige Wasser ist aber ungenießbar. Was es jedoch gab, war Bier. Ich kam also zu dem ersten Bier in meinem Leben, einer 0,75 Literflasche von einem chinesischen Gebräu, das angeblich gar nicht so schlecht war. Ich fand‘s scheußlich, hab es aber bis auf den letzten Tropfen geleert. Zumindest war es flüssig. Vielleicht mutiere ich jetzt, oder es erkennt mich keiner mehr wieder, wenn ich zurück bin? Ich werde das jedenfalls nicht wiederholen und bitte euch, dass ihr euch jeglichen Kommentars über diese Sache enthaltet :-).Spät am Samstagabend kam glücklicherweise ein Treck Mulis an, welcher Flaschen mit chinesischem Grün- und Rottee brachte. Das allerdings bekamen wir erst am nächsten Morgen mit, nachdem wir uns zusammengetan hatten, um den Meister zu bitten, gleich nach dem Morgentraining (das wir nämlich trotz Sonntag und allseitiger Erschöpfung zu absolvieren hatten) den Rückweg anzutreten. Der telefonierte auch herum (mit seinem immer griffbereiten Handy), allerdings stellte sich heraus, dass wir ohnehin bis nachdem der Bautrupp am frühen Nachmittag seine Arbeit beendet hätte, die Straße nicht passieren könnten. Die Arbeiter bekamen also auch keinen Sonntag. Es blieb damit nur, zu warten und nach verzweifeltem Gestikulieren mit den Herbergsleuten verkauften die uns schließlich die Flaschen mit dem Tee. So sahen wir zumindest eine Möglichkeit, bis zum Nachmittag durchzuhalten.