Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ja an der ein- oder anderen Stelle schonmal erwähnt, dass es Sommer ist ;-)…es ist also ziemlich heiß. Das steckt jeder Organismus unterschiedlich weg - wobei ich sagen kann, dass ich mich besser daran gewöhnt habe, als befürchtet. Die besten Trainingseinheiten sind aber dennoch für mich das Morning Exercise und das freie Trainings abends auf dem Lehmplatz des Schul-Innenhofes. Man kann üben, was man möchte und das ist recht nett, weil die erfahrenen Schüler, vor allem die Jungs aus der Wushu-Gang (das sind die Jungs zwischen 7 und 18, die hier Jahre verbringen) einen ganz gerne korrigieren. Dass sie vorher kichernd zusehen, muss man eben in Kauf nehmen.
Seither hat sich meine Zufriedenheit hier deutlich gesteigert. Der Stock ist einfach 'meine' Waffe. Ihn zu bedienen ist ein ziemlicher Kraftakt, weil es oft größerer Geschwindigkeiten bedarf und Fliehkräfte wirken, denen dann die Körperspannung im ganzen Torso entgegenhalten muss. Ich habe also jetzt einen richtigen Workout an der Backe, was mir aber gut gefällt. Mit Bruder Shan, der der Meisterschüler von Shifu Chen ist und noch ziemlich jung, habe ich mich ein paar Tage lang zusammenfinden müssen. Er ist sehr scheu, einer Frau gegenüber noch mehr und wusste anfangs nicht so recht, wie er den Kontakt mit mir gestalten sollte. Das haben wir dann aber gut hingekriegt und inzwischen ist es neben produktiv sogar auch lustig. Nach ein paar Tagen durfte ich dann die Entdeckung machen, dass er ein paar durchaus brauchbare Brocken Englisch spricht, was er bisher nie verwendet hatte. Jetzt hat er sich getraut und das hilft doch an der einen oder anderen Stelle sehr weiter.
Wenn ich mal die eigenen Erlebnisse mit denen der anderen Schüler hier (und auch mit den Berichten von denen, die bereits an anderen Schulen gelernt haben) vergleiche und zusammenfasse, dann denke ich, dass wir uns hier durchaus eines intensiven und qualitativ hochwertigen Trainings erfreuen dürfen. Es hat hier und da seine Haken, wobei ich aber viele von denen darauf zurückführe, dass sich das ganze Lehrsystem hier noch finden und festigen muss. Und ich finde es auch gar nicht verkehrt, dass Shifu Chen diesem Prozess etwas Zeit gibt und sich anschaut, was sich so für Entwicklungen ergeben, ohne diese gleich von vornherein in eine feste Form zu pressen.
Allerdings bringt das für uns, die jetzt während dieser Phase da sind, mit sich, dass wir zum einen eine Reihe Kompromisse eingehen müssen und zum anderen eben sehr selbstbewusst auftreten und unsere Wünsche äußern müssen. Diejenigen, die dies getan haben, haben sich vielleicht nicht immer des Shifus innere Zustimmung eingehandelt, aber abgewiesen hat er in der ganzen Zeit, in der ich nun hier war, keinen auf diese Weise vorgebrachten und begründeten Wunsch. Man muss also über seinen Schatten springen und deutlich machen, was man will, auch wenn das für so manche Kungfu-Seele, die eher gewohnt ist, sich dem Shifu unterzuordnen, gar nicht so einfach zu bewerkstelligen ist.
Abschließend noch ein Wort zu den Rahmenbedingungen, denn was hier wirklich schön ist, sind unsere Trainingsplätze. Es gibt grob gruppiert vier Orte, die zum Training genutzt werden: der Tempelvorplatz (dort findet das Morning Exercise statt), der Hof der Schule (dort trainieren die Wushu-Jungs und mal vereinzelt ein paar der Gäste, wenn sie Hard Qigong machen, bestimmte Wushu-Spezialitäten lernen wollen oder auch Kinder sind. Hier unterrichten Meister Gui, der sehr gut ist und Meister Ming. Der überdachte Hinterhof der Schule (hier findet ebenfalls ein etwas anders strukturiertes Morning Exercise statt und tagsüber wird hier je nach Bedarf trainiert, vor allem aber Taichi-Formen finden hier ihren Platz) und dann der Tempelhof selbst, in dem der Großteil der älteren Schüler trainiert. Das sind insgesamt sehr gute Möglichkeiten und gerade das Ambiente im Tempel ist schon wirklich anregend beim Training. Da der Tempel ein von vier Seiten mit Gebäuden umstellter Platz ist, gibt es auch zu jeder Tageszeit irgendwo ein wenig Schatten. Der reicht zwar nicht aus, um darin zu trainieren, aber doch zumindest, um sich mal in einer Verschnaufpause schnell da rein zu stellen. Das allein ist schon richtig viel Wert.
Insgesamt ist meine Zufriedenheit mit dem Training ziemlich schwankend. Die Schule existiert ja erst seit zwei Jahren und ich denke Vieles, vor allem organisatorisches im Zusammenhang mit dem Training, steckt einfach noch in den Kinderschuhen. Die Coaches beherrschen alle wirklich gutes Kungfu, aber als Lehrer sind sie einfach nicht ausgebildet. Es gibt zwei unter ihnen, die es gut verstehen, zu unterrichten und zwei weitere von denen ich denke, dass sie mit ein wenig mehr Erfahrung gute Lehrer werden können. Aber dann gibt es eben auch eine Reihe Leute, die ihre Vermittlung ausschließlich auf wiederholtes Vormachen beschränken. Das geht alles natürlich Hand in Hand damit, dass sie kein Englisch sprechen und von daher auf Gesten und Körpersprache angewiesen sind. Aber dass dies durchaus auch funktionieren kann, zeigt sich ja bei den beiden erwähnten guten Coaches.
Die chinesischen Schüler (und später immerhin auch vereinzelt die ‚Foreigners‘) hingegen werden von den Coaches betreut, also den anderen Lehrern und auch Meistern hier an der Schule. Diese können eine viel höhere Trainingsintensität herstellen. Zusätzlich haben sie nicht den Druck, irgendeine Position oder Autorität darzustellen, um deren Ausstrahlung sie fürchten, wenn sie sich mit Händen und Füßen verständlich machen müssen. Auch bei diesen schwankt dennoch die Unterrichtsqualität, was dann aber einfach am Talent, zu lehren und der entsprechenden Erfahrung liegt. Denn es scheint, dass sie hierin keine Unterstützung erhalten, also einfach ihrer eigenen Intuition überlassen werden. Und da haben manche eben das nötige Gespür und andere nicht. Aber im Querschnitt würde ich sagen, dass die ganzen ‚Brüder‘ durchaus einen guten Kungfu-Unterricht gestalten.
Diese organisatorische Situation führte jedenfalls dazu, dass ich mich in den ersten zwei Wochen durchaus immer mal wieder gelangweilt habe. Ich wurde mit vier anderen, gleichzeitig angekommenen Leuten zu einer Gruppe gemacht und ohne, dass es hierzu ein Gespräch oder eine Nachfrage gab, wurde bestimmt, welche Taichi-Form wir zu lernen hätten. Diese Wahl des Meisters ist zwar nachvollziehbar, weil es sich dabei um die Basisform des Wudang-Kungfu handelt, aber ich hatte eigentlich einen anderen Plan, wollte eine Taiyi-Form lernen, also einen ganz anderen Stil. Ich habe das dann auch erwähnt, konnte es aber zum einen vielleicht nicht so deutlich rüber bringen und zum anderen wurde just erklärt, dass die andere Taichi-Form obligatorisch für alle sei. Diesen Gedanken an sich finde ich gar nicht verkehrt und die meisten Leute hier können die Form auch tatsächlich inzwischen. Aber eben nicht alle, da waren dann doch eine ganze Reihe Schüler, die nicht diese Form gelernt haben, sondern gleich etwas anderes. Diese inkonsistente Politik des Meisters führe ich mal darauf zurück, dass er eben selbst noch nicht in allen Punkten so genau weiß, wie er das Training (mit seinen durchaus komplizierten Umständen von Kommen und Gehen und verschiedener Wünsche seitens der Schüler) aufbauen will. So kommt es wohl momentan noch zu solchen unklaren und widersprüchlichen Zuständen.
Ich habe mich dann mit dieser Form arrangiert und letztendlich ist sie auch wirklich sehr gut. Als wir sie mit unserer Gruppe nach 9 Tagen abgeschlossen hatten, hätten wir allerdings bis zum Nimmerleinstag warten können, um etwas Neues anzufangen, wenn wir nicht mit zunehmender Intensität nachgebohrt hätten. Der Meister ist der Meinung, dass die Form dann zunächst mit aller Aufmerksamkeit geübt werden soll – und auch diese Meinung teile ich durchaus. Allerdings nur, wenn ich auch korrigiert werde. Wenn das nicht der Fall ist und ich nur jeden Tag 9 Stunden lang diese Taiji-Form wiederhole, ohne aber ein Feedback zu bekommen, dann finde ich, 3 Tage sind genug, um all das, was ich selbst tun kann hinsichtlich der Verankerung der Bewegungsabläufe, auch umzusetzen. Denn da die Form zum Basismaterial gehört, wird sie ohnehin zum Beginn jeder Trainingseinheit mindestens zweimal durchgeführt, das ergibt dann schon 90 Minuten Taichi-Training am Tag. Und dann machen wir sie alle gemeinsam und ich kann meine eigenen Bewegungen zumindest an denen der anderen korrigieren.
Ich liebe den Stock als Waffe und wollte die Ba Xin Guin, die ‚Eight-Immortals-Staff-Form‘ lernen. Also bin ich am letzten Montag dann einfach mit einem Stab im Tempel aufgetaucht mit der Absicht, den Meister zu bitten, mich diese Form zu lehren. Schon am Freitag zuvor hatten ein paar andere Schüler eine Gelegenheit gefunden, dem Meister mitzuteilen, dass sie gerne was mit dem Schwert machen würden. Shifu Chen ging dann wohl davon aus, dass dies irgendwie auch mich betreffe und ich denke mal, das wäre ihm auch entgegengekommen. Ich hatte allerdings nicht vor, eine Schwertform zu lernen, mich fasziniert eben der Stock. Diesmal wollte ich auch keinen Kompromiss eingehen, weil ich dies schon in den ersten beiden Wochen getan hatte und nun gerne das tun wollte, was ich selbst ausgesucht habe. Ich bin also nicht eingeknickt, als Shifu Chen Lisa seinen Unmut darüber verdeutlichte, dass ich mit dem Stock ankam – wobei er aber wohl auch wirklich einfach falsche Vorannahmen hatte. Denn auf seine Frage hin, warum ich denn jetzt den Plan ändern wolle, erklärte Lisa ihm erstmal, dass das ein Irrtum sei und ich nie geäußert hätte, dass ich eine Schwertform lernen wolle. Das hat ihn wohl wirklich überrascht und vielleicht hat er dann auch realisiert, dass das eher seine fixe Idee war, aus pragmatischen Gründen eine neue, einheitliche Gruppe zusammenzustellen. Jedenfalls war seine Antwort dann (von Lisa übersetzt): „so if you really want to study the stick, Brother Shan will teach you“. Ich weiß nicht, ob das als eine Art Abfuhr gedacht war, aber ich habe mich in dem Moment sehr gefreut. Denn nun würde ich meine Lieblingswaffe nutzen können und noch dazu von einem Bruder unterrichtet werden.